Wie behindert. Kultur für Alle.
oder “Das Vergessene Publikum”
Der Besuch eines Konzerts oder eines Theaterstücks bereichert unser Leben auf verschiedenen Ebenen. Es inspiriert uns. Es hilft uns vom Alltag abzuschalten. Es bringt uns zusammen. Es ist Teil des Ausdrucks unserer kulturellen Identität.
Zu Zeit können Kunst- und Kulturveranstaltungen nicht, oder nicht in gewohnter Weise, stattfinden. Diese Tatsache führt zu einer äußerst prekären Situation für die gesamte Branche und bedroht eine Vielzahl von Existenzen, der darin involvierten und angeschlossenen Akteure.
Künstler*innen haben keine, oder kaum mehr, Möglichkeiten aufzutreten. Für viele bedeutet dies nicht nur enorme finanzielle Einbußen, sondern auch den Verlust der Möglichkeit ihr kreatives Schaffen einem Live-Publikum zu präsentieren. Es fehlt das direkte Feedback der Zuschauer*innen und Zuhörer*innen und die Energie, die so nur bei Konzerten, Theaterstücken und anderen Live-Aufführungen im Raum entsteht. Für viele Künstler*innen hat dieser Zustand enorme Auswirkungen auf ihre Kreativität und letztendlich auch auf ihre mentale Gesundheit. Kunst- und Kultur lebt von der öffentlichen Darbietung kreativer Werke.
Aber nicht nur für Künstler*innen, sondern auch für uns als Gesellschaft kann die momentane Situation zu schweren und nachhaltigen gesellschaftlichen Konsequenzen führen.
Der Kit unserer Gesellschaft
Wir erleben momentan gerade alle wie es sich anfühlt, wenn wir nicht mehr die Möglichkeiten des gegenseitigen kulturellen Austauschs haben, oder gemeinsam künsterlische Live-Darbietungen jeglicher Art erleben können. Diese Momente, in denen wir dem Alltag entfliehen und uns voll und ganz der Musik hingeben können, uns von Theaterstücken unterhalten lassen, oder uns von der Magie einer Bühnenperformance einfangen lassen, hat uns die Corona-Pandemie momentan genommen.
Dabei sind Kulturveranstaltungen enorm wichtig. Sie sind Inseln der Begegnung und des Austausches. Hier kommen Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten zusammen, verbunden durch das gemeinsame Interesse an Kunst und kulturellen Erlebnissen.
Kulturveranstaltungen unterhalten und inspirieren uns, sie lösen Emotionen aus, erweitern unseren Horizont und regen zu Diskussion an. Sie sind das schizophrene, soziokulturelle Fundament unserer Gesellschaft, auf dem wir einerseits Werte entwickeln, denen wir uns zugehörig fühlen und andererseits Normen und Konformitäten durchbrechen.
Wir brauchen diese Begegnungen damit der soziale Klebstoff „Kultur“, der unsere Gesellschaft zusammenhält, nicht bröckelt.
Kultur, nur für Privilegierte?
Was wäre, wenn dieser Zustand beständig ist und nicht nur temporär? Was wenn nur ein Teil unserer Gesellschaft in den Genuss von Konzerten, Theaterstücken, Lesungen, oder Tanz-Performances kommen könnte, weil sie privilegierter sind als der Rest? Was würde das in uns und den Menschen um uns herum auslösen? Wie sehr würde es unsere Gesellschaft spalten? Für die meisten von uns ist das nicht vorstellbar oder nur schwierig nachzuvollziehen.
Für fast 10% der deutschen Bevölkerung und der Bevölkerung Europas ist das allerdings der ganz normale Alltag. Auch ohne Corona. Aufgrund einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung sind sie vom Besuch von Kunst- und Kulturveranstaltungen oft ausgeschlossen, weil es zu viele Hürden gibt um daran teilzunehmen.
Auch finden Künstler*innen mit Behinderungen generell auf Veranstaltungen aus dem Kunst- und Kulturbereich nur sehr selten statt und haben dadurch eben nicht die Möglichkeit vor einem größeren Publikum aufzutreten.
Zugang zu Kultur ist ein Menschenrecht
Obwohl die EU-Grundrechtecharta Diskriminierung aufgrund einer Behinderung verbietet und das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Integration anerkennt, ist dieser Teil unserer Gesellschaft heutzutage immer noch von der Teilhabe an einem Großteil von Kulturangeboten ausgeschlossen. Zwar wurden in der Vergangenheit zum Teil vereinzelt Hürden abgebaut, aber immer noch gibt es eine Vielzahl an Barrieren, die verhindern, dass Menschen mit Beeinträchtigungen vollständig am kulturellen Leben teilhaben können.
Dabei sind Werte wie Würde, Autonomie, Gleichheit und Inklusion zentrale Grundsätze der EU. So legt das jüngste UN-Menschenrechtsabkommen, die Behindertenrechtskonvention , ausdrücklich fest, dass die Schlüsselkonzepte Selbstbestimmung, Teilhabe und Inklusion auch für Menschen mit Behinderungen gelten, nämlich für Personen, „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“.
Inklusive Kulturveranstaltungen im digitalen Zeitalter
Neue Technologien und die fortschreitende Digitalisierung haben den Zugang zu kulturellen Angeboten für einen Großteil der Bevölkerung bereits enorm erleichtert. Dennoch sind Menschen mit Beeinträchtigung aller Altersklassen und gesellschaftlichen Schichten, die gerne Kunst- und Kulturveranstaltungen besuchen möchten, davon ausgeschlossen, oder, wenn überhaupt, fast immer auf die Hilfe anderer angewiesen.
Informationen über bevorstehende Veranstaltungen sind so gut wie nie in einfacher Sprache aufbereitet. Menschen mit einer Sehbehinderung haben es schwer sich eigenständig Tickets für Veranstaltungen zu buchen, eine Gehbehinderung hält viele davon ab Konzerte und Theateraufführungen zu besuchen, weil sie keine örtliche Begleitung finden, und immer noch bieten die meisten Veranstaltungen kaum Möglichkeiten an auch hörbehinderte Menschen daran teilhaben zu lassen.
Dadurch können sie letztendlich nicht frei und eigenständig entscheiden wann und wo sie am kulturellen Leben teilnehmen möchten. Das ist eine Schande für die Kulturbranche, die sich ansonsten oft über Vielfalt und Teilhabe definiert.
Ausgrenzung und verpasste Chancen
Dieser Zustand ist nicht nur aus rein humanistischer und kulturpolitscher Sicht inakzeptabel. Für die Kulturwirtschaft bedeutet das zugleich auch, dass eine nicht unerheblich große Zielgruppe bei der Gestaltung von kulturellen Angeboten vernachlässigt wird und damit potentielle Umsätze, die mit diesem Publikum zu erwirtschaften wären, nicht genutzt werden.
Allein in Berlin leben 349.437 Menschen mit einer Schwerbehinderung. In Deutschland sind es 7,9 Millionen Menschen und in der Europäischen Union haben insgesamt rund 80 Millionen Menschen eine amtlich bestätigte Schwerbehinderung. Das sind 10% der Gesellschaft, die von der Teilhabe an kulturellen Angeboten ausgeschlossen werden. Seniorinnen und Senioren nicht mit inbegriffen. Hinzu kommen deren Angehörige und Freunde, Mitarbeiter der Sozialwirtschaft, sowie eine große Anzahl von gemeinnützigen Organisationen, die einen Schwerpunkt auf der Arbeit für Menschen mit Beeinträchtigungen setzen und damit nicht nur zu mehr Vielfalt und Diversität, sondern auch zu mehr Umsatz in der Kulturbranche beitragen könn(t)en.
KuDiBa reißt Barrieren ein
Mit „KuDiBa — Kultur Digital Barrierefrei“, einer gemeinsame Initiative von Handiclapped-Kultur Barrierefrei e.V. und MusicTech Germany e.V., möchten wir diese aktuellen Missstände so gut es geht beseitigen und die Rahmenbedingungen für mehr Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen an Kulturveranstaltungen verbessern. Der digitale Wandel bietet zahlreiche Chancen Kulturangebote, wie Konzerte, Lesungen, oder Theater- und Tanzaufführungen, sowohl online als auch offline, barrierefreier zu gestalten. Wir müssen die vorhandenen technischen Möglichkeit nur nutzen.
Mit KuDiBa haben wir uns zum Ziel gesetzt die bestehenden Hindernisse, die beim Zugang zu digitalen und nicht digitalen Kulturveranstaltungen bestehen, sichtbar zu machen und die digitale Kompetenz der Kulturschaffenden zu fördern. Durch die zentrale Bereitstellung von Informationen zu bereits vorhandenen Ressourcen und die Entwicklung neuer, digitaler Hilfsmittel möchten wir es Kulturschaffenden und Veranstalter*innen zukünftig erleichtern selbstständig mehr Barrierefreiheit herzustellen und dadurch ihr Angebot einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
BREAKATHON — ein 48 Stunden Hackathon für merh Barrierereiheit auf Kulturveranstaltungen
Auf Basis der Ergebnisse einer Umfrage, die wir mit verschiedenen Kooperationspartnern aus den Bereichen Inklusion und Behindertenarbeit durchgeführt haben, veranstalten wir daher am 27. November einen Hackathon mit dem Ziel innerhalb von 48 Stunden Prototypen für digitale Hilfsmittel auf Open-Source Basis zu entwickeln, mit deren Hilfe die Barrieren bei der Teilhabe an Kulturangeboten weiter gesenkt werden können. Programmierer*innen, Designer*innen und andere Interessierte, mit und ohne Beeinträchtigung, sind dazu eingeladen sich einzubringen und daran teilzunehmen. Ab heute kann man sich bis zum 21. November über dieses Formular anmelden.
Neben dem Wissen einen nachhaltigen Beitrag zur Vielfalt der Kulturlandschaft geleistet zu haben, erhalten die Gewinner-Teams im Falle einer erfolgreichen Prototyp-Entwicklung zudem bis zu 500 Euro und coole Sachpreise. Zusätzlich senden wir den ersten 30 Teilnehmer*innen, die sich für den Breakathon registrieren ein “Care Paket” zu mit allerlei Sachen, um gut durch die 48 Stunden des Hackathons zu kommen. ;)
Gemeinsam für mehr Barrierefreiheit
Um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen und nützliche Anwendungen zu entwickeln, die den Anforderungen Betroffener und Akteuren der Kulturbranche gleichermaßen gerecht werden, haben wir ein Team aus Mentor*innen zusammengestellt, die den Teilnehmer*innen vor, während und nach dem Hackathon als Ansprechpartner*innen zur Verfügung stehen.
Auf der Projekt-Webseite wird im Anschluss ein „Leitfaden für die bestmögliche Durchführung von barrierefreien Veranstaltungen“ mit allen verfügbaren Ressourcen kostenlos zur Verfügung gestellt um möglichst viele Barrieren bei der Planung und Organisation von Kulturveranstaltungen abzubauen und zukünftig sicherzustellen, dass Kulturveranstaltungen auch von Menschen mit Beeinträchtigungen mit möglichst wenig Hindernissen besucht werden können.
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Merci!
Das Projekt wird von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa im Rahmen des Förderprogramms Digitale Entwicklung im Kulturbereich gefördert.